Mai

Anfrage

Wenn mir der Regen durchs Auge fällt,
bin ich nur noch Wassermann,
erfinderisch und freiheitsliebend.
Wer aber könnte mich retten, wenn mir
im Innern das Wasser bis zum Hals steht,
wer siegelt die Schleusen und schließt
die Wehre hinterm Brustbein, wer nimmt
die Wäsche von der Leine und ehrt
die altmodischen Regenschwüre ohne mich,
wer wirft die Rettungsringe hinaus
ins Leben und legt die angeschwemmten
Kadaver auf den Küchentisch,
wer zieht mir die davonschwimmenden
Felle über die Ohren?

April

Fototermin

Die Frau sitzt auf der Stuhlkante, ihre Tochter mit Pferdeschwanz und weißer Schleife auf dem Schoß. Der Sohn, ins Bild gebeugt, steht hinter ihnen. Abstehende Ohren, strenger Scheitel. Die Krawatte des toten Vaters um den Hals. Sie durchschaut das Objektiv, sieht am Ende der Allee einen Mann in Uniform, der ihr zuwinkt. Bitte lächeln, sagt der Photograph. Die Frau hört das Klicken des Auslösers. Sie sieht ihren Mann fallen. Die Hand des Sohnes auf ihrer Schulter. Liebe, liebe Mutter. Das Mädchen lächelt unter einer weißen Schleife, als könnte es in die Zukunft blicken.

März

Asservatenkammer

Die Dunkelheit in den Augenhöhlen ist
tausend Jahre alt, wie die Krümme links
vom Jochbein. Die Last der Würde
einfach so auf Erden zurückgelassen,
wie Kelch und Patene ohne Handlung
von Schmutz bedeckt. Schau hin:
Als würden seine Knochenfinger
über Seide und Samt nach den
verlorenen Zusammenhang tasten.
Schon fegt der Pinsel staubselig
über die Trümmer der Halswirbel.
Beachte den Ring! Die Initialen
auf den Resten des Holzes verraten nichts!
Geburtstag und Todeszeit unbekannt.
Dazwischen ein abhandengekommenes
Leben voll verstohlener
Sehnsucht nach Sünde und Erlösung.
Bleibt zwischen den Kiefern
das endgültige Gutlachen im Ruhesanft.
Von einer Kinderschaukel sei ihm
der Sprung ins Himmelreich beinahe
gelungen, berichtet die Legende.

Wenn wir die Tür schließen, kehrt
die Dunkelheit zurück in die Lichtquellen.

Februar

Kochkunst

Ich sah zwischen den Baumstämmen seinen abstehenden Armstumpf, an dem ein Marmeladeneimer baumelte, randvoll mit Knollenblätterpilzen, Gifthäublingen und Spitzgebuckelten Rauköpfen.

Er wollte mich lehren, zu kochen eine Speise aus Gras, Kräutern und Gift. Nimm nichts von Fremden! Da schlug er mich mit seinem Atem nieder.

Ich fand Rettung, wie so oft, im Schatten der Buchen. Gestorben ist er Jahre später an Einsamkeit, verborgen hinter einem Vorhang aus strömenden Regen. Seine Rezepte nahm er mit ins Grab.

Januar

Versuch einer Erklärung

Solange ich glaube, daß Du mein Wesen liebst, brauche ich nur zu warten. Um meine Ohren und Augen mache ich mir keine Sorgen. Die Tage und Nächte scheren sich nicht um unsere Zustände. Immer häufiger scheitere ich beim Überspringe des Stöckchens und verlaufe mich im Trüben umgeben von Stille.

Solange ich etwas glaube, hört es niemand. Zwischen Traum und Geschichte schwinden die Abstände. Da kann ich zwei Stufen auf einmal nehmen. Der letzte Sturz ist absehbar. Es geht um Bewegung, nicht um Hoffnung oder Unsterblichkeit. Dabei denke ich mit Sorgfalt an dich, obwohl die Welt vor dem allerletzten Schritt steht. Nur die Fische sind ahnungslos.

Irgendetwas in unserer Nähe, treibt mich zur Flucht. Denn schön sind wir nur auf Distanz. Deine Umarmung auf der Türschwelle ergreift nur die Form des ersten Eindrucks. Verrat könnte im Spiel sein, diese tückische Kugel im Kreislauf.

Die Art und Weise wie du den Tee einschenkst, befiehlt mir zu hören und zu sehen. Jedes Wort wie ein heißer Bissen auf der Zunge dreimal gedreht. Und die Hoffnung auf ein wenig Zartgefühl umgeben von Sang und Klang. Schweigen macht nicht unsichtbar, gehört aber zum Hokuspokus meiner Auftritte. Ich sehe dich in der ersten Reihe, kurz bevor der Vorhang fällt.

In Memoriam für Wulf Kirsten,
der am 14.12.2022 verstorben ist.

Über den Alten Gleisberg hinweg

»…ich, meine freunde, wir gehen, wir reden

immer ein menschliches wort.“

(Wulf Kirsten, aus „die erde bei Meißen“,
„woherwohin“)«

Hinter uns Taupadel, vor uns der Alte Gleisberg.
Dort sahen wir ein Gewitter und merkten, wo die Blitze Wunden am Hang geschlagen hatten. Purpurn quollen Blutstropfen unterm Wiesendunst hervor. Die Blüten der Pfingstrosen. Mit dem Wurzelstock in der Hand begannen wir die Flur neu zu vermessen und verschoben die Grenzsteine unserer Erinnerungen. Auf der Höhe sahen wir die Brandnarben in den Wiesen. Die laute Welt murrte fern. Nur eine Goldammer sang das Lied von der Einsamkeit. Da capo, da capo, al fine. Abstieg durch die Buchenhallen des Nordhangs. Ratlos hielten wir Rast am verlassenen Dachsbau. Und sahen überwinterte Blätter wie unsere Träume zu Tal wirbeln. Wir trafen uns mitten in jener Zeile wieder: Auch das Vergangene ändert sich täglich. Also ließen wir die Flasche kreisen und tischten auf unseren toten Wandergenossen. Was für ein Fest. Hinter Löberschütz wären wir beinahe am Rand einer stillgelegten Strecke auf das Abstellgleis geraten. Ein Geisterzug fuhr lautlos vorüber. Wir wendeten uns nicht. Rüttelnd stand der Bussard im letzten Blau. Unser Tagwerk beschlossen wir Wort für Wort, zwei Streckenläufer am Ende eines Tages, der keine Lüge gekannt hatte. Vor uns Taupadel, hinter uns der Alte Gleisberg.

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