Texte des Jahres 2020

Pirol bei Kaatschen, Mai 2019

Wenn ich an meine Kindheit denke, höre ich den klangvollen Gesang des Pirols, der, sich überschlagend, zum Ohrwurm meines Daseins wurde. Als mich an jenem Maitag sein Flötenton am Ufer der Saale überraschte, traf er mitten ins Herz. Und die Tür hinaus in mein Leben schien sich noch einmal einen Spaltbreit zu öffnen, als wär's nicht schon längst den Fluß hinuntergetrieben. Und ich trank mit letzter Gewißheit den Tultewitzer Weißburgunder, während wieder jener gelbe Ruf ertönte, der in Kaatschen das Zauberwort traf: Und die Welt hob an zu singen.

Rom, violett

Tauben, gurrende Schattenrisse, flatternd im Lichtquadrat des Hinterhofs. Darüber die Tonspuren der Mauersegler unsichtbar am Himmel, der wie dürres Laub knistert. Die Stadt vor der Hitze auf eine Insel im Tiber geflohen. Als könne hier das Wasser nicht sieden und die Insel samt Rom ewig bestehen. Der Tod, der Welt nicht abhandengekommen, wandelt ungebeten durch das Flüstern in den Apsiden. Was wollte man der Mutter Gottes mitteilen? In summa ist der eigene Schmerz immer noch am nächsten. Eine Kerze angezündet für das nicht Erfüllbare und das eigene Heil. Dabei kommt die Stille aus den Augen der Flüchtigen. Wegsehen, weghören, weggehen. Und verkündige ihnen wie große Wohltat dir der Herr getan und sich deiner erbarmt hat. Geduld ist kein Spiel. Dann lieber warten in der Schlange, wo jeder auf seinem Schatten steht und mit der Hand im marmornen Maul des Löwen auf den Biß der Wahrheit hofft. Und zum Schluß die Kuppel der Basilika Sant Pietro durch ein Schlüsselloch betrachtet, als führe da hindurch der Weg ins Himmelreich.

Schlußakkord

Abgekühlt ist längst die Luft
Und ein lockend dunkler Duft
Strömt aus regennassem Heu.
Augen aus den Büschen starren,
im Gestrüpp ein leises Scharren,
irgendetwas bricht entzwei.
Abgehakt ist jene Stunde.
Nur der Mond dreht seine Runde
bis zum ersten Hahnenschrei.
Nichts kann bleiben, wie es war,
dieses nicht und nächstes Jahr,
nur der Schlußpunkt bleibt uns treu.

Café Slavia

Hier lobten sich die Dichter gegenseitig, ohne sich in die Augen zu blicken. Hier nahmen sie bei Kaffee und Absinth das Tödliche und Ungetüme hin und hielten es auf die Länge einer Zigarette aus. An den runden Tischen schwieg das Namenlose genauso wie das Anonyme. Unbeschriebene Blätter warteten vergeblich auf den ersten Versuch. Auch ich nahm mir das Recht, hinter einer venezianischen Maske wenigstens wahr zu sein. Dabei erkannte ich, daß mich Stille und Hoffnung mochten, auch ohne Ruhm.

Schwanensee, Belvedere

Die Wasserfläche, Grenze zwischen Licht und Abgrund, spiegelt das leere Schwanenhaus. Weder Satyr noch Elfe regen sich im Schein der alten Weiden, nur Schatten von Selbstmördern schwanken im Schilf. Kein Mensch in dieser Stunde, der sein Spiegelbild in der Wasserstille umarmen möchte. Endlich nimmt sich ein Eisvogel die Freiheit, fängt einen Fisch und zieht kreischend eine leuchtende Spur über dem See.

Das Lächeln

Sommergrün, gerader Wuchs, im Windhauch,
der die Säulenkronen schwanken läßt, wie zum
Gruß von Pappel zu Pappel, ein gebildeter Stand.
Trotz ihrer Korkwarzen in der dunkelgrauen Borke
achtet die lombardische Schönheit mit Silberblick
auf die wellige Zähnung ihrer Blattränder.
Eingeschlechtlich und zweihäusig läßt sie sich
unaufgeregt vom Wind bestäuben,
Abendpfauenauge, Kleiner Schillerfalter und
Pappelschwärmer schweigen im Flüstern ihrer Blätter.
Sckell sah schon der Pappeln stolze Geschlechter ziehen
in geordnetem Pomp vornehm und prächtig.
Eine Holztafel mit den Maßen 77 mal 53 aus einem
ihrer Stämme gesägt, trägt bis heute das Lächeln der
La Gioconda auf weichem Grund.

Altmodisch

In den Zweigen der Linde bewegt sich die Welt.
Wolkenflucht, Vogelwolke, beides möglich.
Aufgehoben von einem Windstoß bekommt die
Spreu Flügel oder war es der Weizen.
Hinter dem Friedhof verwesen alte Worte.
Etwas singt tief in der Kehle oder flüstert in den
Mauernischen. Die Bodenbrüter schweigen außerhalb.
Im Kirschbaum die Himmelsleiter an einen morschen Ast gelehnt,
keine Früchte im Korb aber leuchtende Sterne an den Zweigen.
Sprich den Lichtsegen heute Abend hinein in
die verlassenen Schneckenhäuser, damit wir eine
Wohnung haben, um die Stille zu üben.

Felsen

Ihre Existenz ist zweifelsfrei. Deshalb kennen sie keine Schweißausbrüche und führen niemals Gespräche mit Regenpfeifern über den Hunger sauer gewordener Grummetgräser. In Brandungen beweisen sie ihre sprichwörtliche Standhaftigkeit. Obwohl Nebenprodukte der Schöpfung, wurde der Apostel Simon, genannt Petrus, der Felsen des Herrn, auf dem er seine Gemeinde baute. Zwischenmenschlich sind Felsen vollkommen erfüllt von ihrem Sinn, nämlich da zu sein. Daraus resultiert, daß sie sich unparteilich verhalten. Felsen lösen sich nur, um der Veränderung willen. Sie äußern sich nicht zu den Wirkungen, die sie im Fall des Falls hinterlassen. Den Felsen erkennen wir, wenn er, die Erdoberfläche durchstoßend, sein verwittertes Antlitz zeigt. Ich fühle seinen Vorwurf, weil wir ihm Gewalt antun, wenn wir seinen Leib brutal zerstückeln. Felsen lassen nicht mit sich reden. Sie bedenken nicht das Ende, sondern ertragen uns mit stoischer Gleichgültigkeit. Manchmal wohnen heiligen Nymphen in ihnen und geben im Schutz der Felsen jeglichem gern, was er im Stillen begehrt. Aber nicht einmal das bemerken wir.

Texte des Jahres 2021

Anna Selbdritt

Auf drei Füßen ruht das Bild, ein Dreieck, das die Stille in ihrer Vollkommenheit trägt. Die Linie von Fuß zum Kopf der Anna bildet ein Kreuz mit der Linie von der Schulter zum Scheitel der Tochter. Lamm und Kind blicken auf in die Gesichter ihrer verschmolzenen Leiber. Anna thront aufrecht, von ihrem Schoß beugt sich fürsorglich die Tochter hinab zum Kind. Die Dunkelheit, die kommen wird, fällt aus dem Bild ins Auge des Betrachters. Keine Rettung in Sicht, nur die Öde der Landschaft im Hintergrund, die sich ausdehnt, wie die Endgültigkeit. Wäre da nicht das Lächeln der Frauen.

Wortlandschaft

Der Weg führt durch die Landschaft aus Wörtern, Zeilen, Umbrüchen und Absätzen, die sich zu Hügeln und Bergen formen. Hier Wiesen, da Felder mit dem Redefluß zwischen den Ufern hindurch. Ahorn und Zeder setzen Zeichen, wenn der Wind alles bewegt. In den Zwischenräumen der Widerspruch zwischen Stille und Schweigen, der jedem Halm und den fliegenden Blättern Bedeutung verleiht. Also das Ungesagte. Die Sprache bedient sich der strömenden Luft und die Töne werden Klang, der bis in die Häuser vordringt, bis in die letzte Kammer, angefüllt mit Seufzern, dem Gelächter wider die Angst, den Liedern, Befehlen und den Schreien, den Schwüren und zärtlichen Lauten. Ein Gebirge aus Bedeutungen, die Mauern sprengen könnten. In den Händen ein beschriebenes Blatt mit dem Gedicht, das das Unwiderlegbare, das Gültige, das Wahre feiert, bis es vom Wind mitgerissen über der Landschaft verweht und in den Kreislauf zurückkehrt.

Vom gewesenen Tage

Der Morgen wirft seine Netze aus,
feine Regenschnüre in Nebelschleier gewoben.
Metallisches Grau von Worten übriggeblieben,
die sich verfangen haben. Weiß der Kuckuck warum!

Die blattlose Linde vorm Fenster neigt sich gegen die
Schattenspuren ihrer Zweige,
Tröpfchen hängen an ihnen wie Mehltau.
Ein Nagel durch Jahresringe geschlagen,
trägt ein Schild, das vor Gefahren warnt.

Krähe hacken mit ihren gerissenen Schnäbeln
Wunden in die versteinerte Luft,
Die Geschichte der Menschheit spiegelt sich in ihren Augen.
Dunst aus der Kanalisation steigt auf wie eine Verheißung.

Was soll man noch sagen:
Die Ankunft des Briefträgers bleibt bis auf weiteres Ungewiß.

Nachtwandler

Hausfassaden in den Farben verblichener Lumpen, schmutziges Braun, Ocker, wie eine Erinnerung an verwaschenes Gelb, eine Galerie der Gründerzeit links und rechts der Straße, beinahe leergefegt, mit Resten von Ereignissen im Rinnstein, die längst die Tore hinter sich geschlossen haben. Die Träume riechen nach alten Kartoffelsäcken und die Sterne stellen nur eine Möglichkeit des Lichts dar, verspiegelt in Augen, die verletzt sind von verblendeten Tagen. Dunkles breitet sich über Sonnenuhren in den Vorgärten aus. Grünes trauert hinter schmiedeeisernen Gittern. Und auf wippenden Pferden kommen nicht mehr kleine Mädchen vorüber, dem Pferdesprung beinahe entwachsen; und schauen nicht auf, irgendwohin, herüber. Die Stadt ist abgetaucht im Ozean der Nacht, auf dessen Grund Traumwandler umherirren. Ihre leeren Blicke suchen nach dem einen erleuchteten Fenster. Als erwarte sie jemand jenseits des schmutzigen Brauns, des Ockers, des verwaschenen Gelbs, als gehörten die Reste von Grün zu einer Tür, die sich noch einmal öffnen könnte.

Von wegen

Verurteile nicht die Kuh auf dem Eis. Beachte die Verhältnisse und deinen Standpunkt, ein Unort auf brüchigem Grund. Nimm an, du seist der Drehpunkt der Verhältnismäßigkeiten. Halte still, denn von deiner Ausdauer hängt auch das Gleichgewicht zwischen Kuh und Welt ab. Das Eis wird schmelzen, wenn die blauen Bänder über der Schicksalsgemeinschaft aus Kuh und Du flattern. Auch Atlantis ging unter auf Nimmerwiedersehen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Kuh wird ohne Schuldzuweisung ersaufen. Du aber bist bestellt, um mit dem Schicksal zu hadern, während ein Pirol unter Federwölkchen sein Trauerlied auf die ersoffene Kuh und dich anstimmt.

Wolken

Vergiss die Wolken nicht, auch jene nicht, die nur Minuten blühen. Auf sie zu warten, um mit ihrem Schattenwurf über Land zu gehen, reicht nicht aus, um zu verstehen, dass ihre Flüchtigkeit nach einem Bild in uns verlangt.
Suche in den Wolken Wesen mit Gesichtern von Tieren und Dämonen, Sie erscheinen zwar als Orakel, doch ist es ihnen gleichgültig, was mit uns in Zukunft geschieht. Manchmal dringen sie durch die Augen in uns ein und hinterlassen eine weiche Verwüstung. Die Gewalt gebrochener Wolken kann maßlos sein, aber strafmündig sind sie deshalb noch lange nicht.
Wolken sind weder Rauch noch Qualm. Sie geben keine Zeichen, die uns betreffen könnten. Freiheit über ihnen existiert nicht, nur Grenzen, an denen sie sich auflösen, ohne Spuren zu hinterlassen. Selbst ihre Spiegelbilder in einem Dorfteich bleiben ohne Folgen.
Wolken lassen sich nur schwer verarbeiten. Versuche, Schleierwolke im Labor zu weben, scheiterten an den Gesetzen der Natur.
Bedenke, dass Wolken nur entstehen können, wenn warme Luft aufsteigend abkühlt. Dadurch ist die Würde der Wolke unangreifbar, auch wenn sie gewissenlos ist.
Vergiss nicht, dass ihre flüchtige Anwesenheit ausreicht, um eine Sehnsucht in uns zu wecken, die immer wieder die Tür vor dem Abgrund in uns zu schließen vermag.

Chopin, Sonate Nr. 3 h-Moll op. 58
IV. Finale: Presto, ma non tanto, agitato

Die Mittelstimmen eröffneten das Rondo mit großer Gebärde, wuchtig und dissonant, ein aufschäumender Überfluß aus den Herzkammern der Musik, rücksichtslos und doch klug berechnet. Als ich eine Frage stellen wollte, war die Antwort bereits mit gelöstem Schwung linkerhand ab und rechterhand hinauf geströmt. Farben explodierten unter der Schädeldecke. Ich versank tief in meinem Körper zwischen Gedärm, Geräusch und Gestank und traf meine Seele, die mich aufforderte innezuhalten. Wir lauschten unbenommen, ich mit heiterem Erschrecken und sie mit Kennermiene. Nichts gab es zu analysieren. Die Stille mußte doch kommen und war, als sie eintraf, endgültig und unabänderlich wie ein gütiger Richtspruch.

Vor der Auferstehung

Die Stille zwischen den Kunstblumen bettelt um Beachtung vor einem Hintergrund, der sich bis zum Zerreißen spannt. Denn sie sind dazu verdammt, still zu sein. Regungslos beharren sie auf der Natürlichkeit ihrer handgemachten Schönheit. Und doch kann man sie hören, jene Kunstblumen, die etwas zu verkünden haben. Was ist das aber für ein Stillleben, das nicht schweigen kann inmitten seiner bildhaften Unruhe aus Flächen, Grenzen und Überlagerungen, die genau um ihre Wirkung wissen und allen Blicken mit stillem Vorwurf standhalten. Denn die Nelke, die Rose, die Aster mit dem Draht im Leib sind gepeinigt von der Ahnung, in Reih und Glied vor der Metallwand einer Schießbude aufgesteckt, über Kimme und Korn einfach abgeschossen zu werden.

Kunstblumenstilleben

Die Stille zwischen den Kunstblumen bettelt um Beachtung vor einem Hintergrund, der sich bis zum Zerreißen spannt. Denn sie sind dazu verdammt, still zu sein. Regungslos beharren sie auf der Natürlichkeit ihrer handgemachten Schönheit. Und doch kann man sie hören, jene Kunstblumen, die etwas zu verkünden haben. Was ist das aber für ein Stillleben, das nicht schweigen kann inmitten seiner bildhaften Unruhe aus Flächen, Grenzen und Überlagerungen, die genau um ihre Wirkung wissen und allen Blicken mit stillem Vorwurf standhalten. Denn die Nelke, die Rose, die Aster mit dem Draht im Leib sind gepeinigt von der Ahnung, in Reih und Glied vor der Metallwand einer Schießbude aufgesteckt, über Kimme und Korn einfach abgeschossen zu werden.

Grober Regen, Luzern

Die Kapellbrücke, dermaßen getroffen von der Wucht jedes einzelnen Tropfens, zickzackte aus der Linearität heraus, zwei Knicke bildend, die von Touristen, kurz vor dem Durchbruch einzelner Sonnenstrahlen, als Hintergrund fotografiert wurden. Ein Lächeln auf den Lippen und Bilder über den Köpfen vom Totentanz, auch vom Riesen von Reiden. Und dachten nicht daran, wie lang er vor ihnen da war. Und, daß man seine Gebeine gefunden und behalten, das Übrige aber der Erde zurückgab, in der es geruht hatte. Unwissend schickten die Touristen ihr Lächeln um die Welt. Was aber bleibt vom Tage übrig, der standhielt unter den Einschlägen grober Regentropfen und die Anwesenheit eines toten Riesen schweigend bewahrte, dessen Schulterblätter aus Mammutknochen bestanden.

Fisch – physiognomisch

Er denkt im einfallenden Licht an den Spiegel im Mond, der das Bild vom schielenden Fisch hütet, ein Breitmaul mit schmalen Lippen voller Sinnlichkeit und schimmernden Schuppen. Die Wände des Aquariums spiegeln ihn und antworten stoisch auf seine Frage: Wer der Schönste im gläsernen Kasten ist. Und dabei bleibt er, was er ist, ein Allerweltfisch mit dem Traum von grenzenloser Schönheit auf engstem Raum, den nicht einmal Austern zu träumen wagen. Vielleicht könnte ein Angelhaken in der Unterlippe seinem Denken eine andere Richtung geben.

Zaunlos

Im Keilrahmen ölfarbige Flächen, die darauf bedacht sind, sich voneinander abzugrenzen. Eingebettet in Gips, auf Papier, von Karton getragen, der nicht weich wird, ruht etwas Eingepferchtes. Und kein Zaun, kein Zwischenraum, kein Schattenwurf von parallelen Streifen kann die Entgrenzung sichtbarer machen als die abgenutzten Rahmenleisten, die originär sind. Im Streulicht erhebt sich im Goldenen Schnitt ein Kreuz, das aus einem langen senkrechten Balken und einem kürzeren waagerechten Balken besteht, oder man sieht einen Körper mit Schattenflügeln, der grenzenlos in das Gefühl räumlicher Tiefe hineinragt.

Texte des Jahres 2022

Beim Splittern des Fensters

Ich vermaß Abstand und Dauer zwischen zwei Atemzügen.
Sie waren beide gleich.
Also unterschieden sich Zeit und erste Dimension
Nicht mehr.

Ich sah hinter dem geschlossenen Fenster meiner Seele
Noch einen Lichtschein ohne Quelle. Und einen Schatten,
Der meine Anwesenheit voraussetzte.

Maßstab und Stoppuhr fielen mir aus den Händen,
Als ich das Splittern des Fensters hörte, das dem Druck
Der Dunkelheit nicht standzuhalten vermochte.

Mauern gab es nicht mehr.
Der Raum, der mich umschloß, besaß weder Höhe,
Noch Breite, noch Tiefe. Ich sah,
Wie die Erde auf der Milchstraße davonrollte.
Und begann zu fallen.

Vor der endlichen Stille traf mich rechtzeitig
Der schmetternde Schlag eines Buchfinken.
Ohne ihn wäre ich weitergefallen
Und hätte endlich Bescheid gewußt.

Nach der Schlagzeile

Späte Nachrichten aus den vier Ecken der Erde,
wo die Winde die alten Botschaften aus der Weltchronik blasen.
Wolken aus Wörtern und Sätzen in der Helle des Himmels.

Darunter lassen Schattenrisse ihre Köpfe hängen,
Sie fordern im Namen der Bilder
Die Unabhängigkeit von jedwedem Objekt.

Der Regen bleibt aus, weil er keine Illusionen kennt.
Nur dürres Gras träumt noch eine Weile
von Kleeblättern am Wiesenrand, bis es brennt.

Seit dem Fehlen freundlicher Grüße in Wort und Schrift
begehren die abhanden gekommenen Wörter nichts mehr,

Doch die Sprache der Kurzschlüsse führt
Immer häufiger zu Stromausfällen.
Den Begriffen gehen dabei die Bedeutungen verloren, selbst
Sternbilder verwechseln ihre Namen. Der Rest ist Schweigen.

Wenn es endlich dunkel wird,
balanciert der Mensch auf dem Horizont entlang
von einer Ecke der Erde zur anderen und verschwindet so,
wie er gekommen ist, nackt, kläglich und sprachlos.

Aufstieg zur Lenzburg

Schritt für Schritt durch ein Spannungsfeld
Der Ewigkeit entgegen. Die Burg hielt
Stand vor dem aufziehenden Gewitter.

Mauersegler schrieben ihre Geheimschrift
In großen Schwüngen über den Dächern
Der Stadt in den Wind.

Blitzschläge brannten Skizzen
Vom ersten Schöpfungstag in die Netzhaut.
Optische Täuschung als Botschaft.

Die Stufen hoben nicht mehr an.
Sie trugen weg vom Frühlingserwachen.
Jeder Schritt ein Abschied.

Oben angekommen, nur versperrte Tore
Und die Mauern, die standgehalten hatten
Vor dem Ansturm der Hoffnung jeder Zeit.

Die Aussichtspunkte waren menschenleer.
Der Blick, in welche Zukunft auch immer,
Reichte nur bis an die vordersten Linien der Gewitterfront.

Als die ersten Tropfen aufschlugen,
begannen die Dinge des Lebens zu glänzen.
Der Abstieg endete ganz unten,
an der ersten Stufe zur Wirklichkeit.

Kalte Küche

Hauch von Kaffeeduft und faulem Fisch,
Auf grüner Wand ein regungsloser Schatten,
Vor dem Fenster geht in Ruh und Schweigen
Der Herbst zu Grunde und die Unschuld
Legt den Finger in die Wunde.

Die Zeit tropft aus dem Wasserhahn und
Teilt die Stille in zwei Teile. Davor, danach,
In der Mitte nichts.

Das Grau der Tage im Besitz der Leere.
Warten auf die letzte Ankunft vor
Geschlossenen Türen.

Am Rand des Lebens verkündet eine Stimme:
Mag es hart sein oder mild,
Endgültig ist das hier gefällte Urteil.

Allein die Vögel sind längst auferstanden,
Weit weg
Erfüllt ihr Loblied das Paradies.

Hauch von Kaffeeduft und faulem Fisch,
Auf grüner Wand ein Schatten, der sich regt
Und Platz nimmt am leeren Tisch.

An der Donau hellem Strande

I

Die Kirche am anderen Ufer schwankte leicht im Schall und Widerhall der Glocken. Der Hahn, von der Kirchturmspitze durchbohrt, schien mit seinen schwarzen Flügeln den Takt zu schlagen.
Das Weinlaub erzitterte unter einem Windhauch, der die Blumenblüten auf dünnen Stängeln in einem Duft aus Rose, Minze und Thymian schwanken ließ.Entlang der Dorfstraße verliefen sich die bunten Häuschen flußauf, flußab, als läge vor ihnen noch ein weiter Weg bis ans Ende der Tage.
Ein Fenster schlug zu und ein Tor ging auf. Katzen jagten fliehende Schatten. Ein Hoch auf den Grüner Veltliner, der überfloß, hinab in die trunkenen Wirbel der Donau. Der Fluß war ohnehin die Ursache aller Bewegung zu Wasser und zu Lande.
Da kam das Schiff ohne Segel und fuhr grußlos vorüber. Ein Fähnchen am Heck flatterte widerwillig. Ein Kind hob die Hand und winkte, winkte, bis die Hand wie ein abhanden gekommener Gegenstand wirkte. Und winkte und winkte.
Die Kirche flußüber stand wieder still.
Der Turm verbeugte sich vor den Walnußbäumen, die standgehalten hatten im Schall und Widerhall der Glocken am Ufer der Donau.

II

Würde die Donau rückwärts fließen, dann wüßten wir mehr von der Venus von Willendorf, die zwischen Groisbach und Spitz in die Erde sank und nichts ahnte vom frischen Gleisbett der Eisenbahnstrecke gen Krems, auf der sie sorgsam verpackt ihre Reise in die Kunstgeschichte antrat. Endstation Naturhistorisches Museum Wien, wo man in den außerordentlichen Proportionen ihres Leibes zwischen Brüsten und Gesäß die Weltharmonie fand.

III

Die andere Seite der Stille warf Schatten unter die Linden, die in Schweigen gehüllt den Duft der eigenen Blüten atmeten. Ihre Kronen breiteten sich taktvoll über Gräbern aus. Namen in Stein gehauen, als könnte dadurch dem Vergessen Einhalt geboten werden. Ketten begrenzten zu allem Überfluß die letzten Heimstätten. Die Namen vermochten das Unabänderliche auch nicht zu ändern. Erinnerungen meldete sich im Gesang eines unbekannten Vogels, der sich unterm Laub des Efeus verbarg. Anfang und Ende waren zu Stein geworden. Ein Schild wies darauf hin, daß Abfälle auf den Kompost am Ausgang gehören. Zuwiderhandlungen würden bestraft.

IV

Der Heilige schwang anmutig das Kreuz über seinem Haupt und kokettierte mit einem kleinen Heiland. Er übersah hartnäckig das gefrorene Lächeln zwischen den schwellenden Lippen eines Puttos zu seinen Füßen. Die Häuser rings um den Marktplatz bildeten seine Gemeinde. Das Kloster auf dem Felsen über ihren Dächern breitete seinen Schatten unabhängig von Wetterlagen und Jahreszeiten über die Stadt. Also versuchte der Heilige Trost zu spenden mit dem kreisenden Kreuz über allen Häuptern. Die Häuser nahmen davon keine Notiz. Sie blickten aus blankgeputzten Fenstern, als wäre doch noch ein Ereignis zu erwarten, das sie betreffen würde.

V

Das Café an der Donau servierte nichts. Serve your selve hieß die Devise. Kühle Köstlichkeiten, kreative Eiskreationen, Pflaume-Zimt – das Angebot der Woche. Die Qualität aus Meisterhand kam auf Plastiktellern daher, heiße Getränke im Pappbecher, der Kunststoff enthielt. Ein graues Brandenburger Tor neben einer einheimischen Marille schmückte das Gefäß. Dafür betrat man mit kompostierbaren Eislöffeln nachhaltige Pfade, die direkt zur Geschirrabgabe führten. Trinkgeld bitte hier.
König Kunde räumte gehorsam Pappteller, Pappbecher, kompostierbare Löffel und die Rechnung ab und drückte sich dann pflichtverloren vor der Reinigung des Tisches mit feuchtem Lappen.
Beehren sie uns bald wieder.
Ruhig rollten die blauen Wellen der Donau vorüber.

VI

Mit allen Wassern gewaschen, eingetaucht im Fluß, der sein Bett verlassen hat, kein Mensch sah jemals die gänzlich andere Seite des Stroms hinter den wogenden Weiden, wo es zu spät war für neue Entdeckungen. Die Stämme der Bäume von wirbelnden Strömungen umschmeichelt, die den Wasservögeln zum Verhängnis wurden. Von den Brücken segelten die Rettungsringe wie fliegende Untertassen über die Köpfe der Ertrinkenden hinweg, die sich in den Strudeltöpfen aufzulösen begannen. Zärtlich glitt blindes Abendrot über das Chaos hinweg und mäßigte die Schreie von Menschen und Vögeln. Inseln legten von neuen Ufern ab, setzten einsame Birken als Segel und trieben flußabwärts. In den Stuben der Häuser hinter mannshohen Ufermauern, denen das Wasser bis zur Krone stand, beleuchtete warmer Lampenschein den Feierabend.

VII

In Grein sah ich, wie das Gegenlicht sich in meinem Weinglas brach. Die Lichtsplitter lagen über den Tisch verstreut. Vor mir langweilte sich der Fluß lang ausgestreckt in seinem Bett. Es roch nach verbranntem Kaffee. Niemand kaufte Blumen um diese Zeit für seine Frau oder Geliebte. Heute Ruhetag, stand auf einem Schild an der Tür des Restaurants. Eine Dame im lila Dirndl las trotzdem ihrem Hund die Speisekarte vor. Da sich beide nicht entscheiden konnten, kehrten sie hungrig zurück in ihre Einsamkeit, während die Kapelle mit erhobenem Kreuz auf dem Felsen bereit zum Sprung in den Fluß schien. Ich war Zeuge und schwieg in den Anblick der Bäume am anderen Ufer vertieft. Ihr Laub liebäugelte mit dem Herbst, der seinen wissenschaftlich exakt vorhergesagten Beginn verpasst hatte.
Erdfarbe stieg aus den Wurzeln die Stämme empor und verteilte sich über die Blätter, als wäre nichts weiter geschehen. Ich trank den Wein aus und fegte mit der Hand die Lichtsplitter zusammen. Blutrot färbte sich das Flußtal.

VIII

Vor Persenbeug tauchten letzte Gründe zwischen Prallhang und Sandbank unter, Treibholz und leere Flaschen ohne stille Post schwammen über Untiefen hinweg. Dunkles presste die Augäpfel unter der Brückenwölbung zusammen, der Wind kannte das Geheimnis der Angst. Und du kennst es, ich kenne es, das rauschende Geheimnis, dem die Worte fehlen.

Texte des Jahres 2023

Trauerrede

Weimar, 22.12.2022

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ach, Freund Wulf, Deine Bitte, wenn es so weit ist, für Dich letzte Worte zu finden, war vor Zeiten ausgesprochen und schien erst in unendlicher Ferne eingelöst werden zu müssen. Aber leise, leise zogen sich die Lebenskreise um dich und es schwand, alles, was da prahlt und prunkt Und nun bist Du tatsächlich durch den letzten dunklen Punkt entkommen. Das ich hier stehe und mit Worten ein Raum des Gedenkens für Dich, den Freund, schaffen soll, macht mich betroffen. Denn die geschriebenen und gesprochenen Worte waren die Elementarteilchen Deines Lebens. Sie bilden eine poetische, unverwechselbar Kirstensche Welt, die uns bleiben wird, wenn wir bereit sind, sie jetzt erst recht, immer wieder neu zu entdecken.

„geboren zu Klipphausen, zwei morgen wind/ hinterm haus, das war an die hügellehne gesetzt, aus lehm und stroh die gefache,/ zwei käfterchen oben, zwei unten/ von fliegenwolken geschwärzt stube/ und stall, am schleifstein geschärft/ und blank gerieben die requisiten/ der handarbeit, in den lebensfluten/ unverdrossen gestochert mit der mistgabel,/ ach, was für ein schund bei den bauern,/ einschüriger lebensdrang, die feldzeichen/ unabänderlich gesetzt, vorm tor stand schützend/ der prellstein, drauf saß ich und sah/ staunend die welt zu meinen füßen,/…“
(aus „erdlebenbilder“, Wettersturz, Ammann 2004)

Da sitzt der Knabe auf einem Prellstein und staunt in die für unsereiner sehr überschaubare Klipphausen-Welt hinein. Dieses Staunen begleitete Wulf ein Leben lang. Er besaß die Fähigkeit, jedes Areal zu seinen Füßen aus der Perspektive dieses Knaben von einst zu betrachten, neugierig, respektvoll und zugeneigt. Und Kinder, seine Söhne, meine Kinder und nun bis hin zur Enkelschar hatten ein feines Gespür für seine Welt- und Natursicht, die anregend und voller Spannung und Ernst daherkam, immer eine ganz besondere Seite dieses Mannes offenbarte. Kam noch die Präzision hinzu, Fundstücke zu benennen, ihnen einen Namen zu geben und sie einzuordnen. So pflasterte er den Hof seiner zukünftigen Poesie und schaffte die Grundlage für rätselhafte Gedanken wie diesen: „wenn tod, wenn grab,/ dann kommt uns nicht,/ was ist das: poesie,/ die hingabe ans wort,/ das feuer, das in den worten brennt,/ der stachel, der schmerzhaft einsticht,/ wohin er auch blindlings trifft.“
(aus „poesie“, Wettersturz, Ammann 2004)

Wulf Kirsten war es ins Stammbuch geschrieben, mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Fazit: „gelebt zur ebenen erde weißtdunoch./ im sonnenrauch die wohnsitze,/ die landstufen mit brotrumpen gepflastert,/ gekalkte kilometersteine/ wie stichworte zum lebensabriß/ quer durch die goldene hufe, von muttersprache eingeschwärzt die erde,…“
(Aus „zur ebenen erde“, der Bleibaum, Ammann 2004)

Hier treffen wir auf zwei Grundpfeiler, die neben anderen Wulfs Leben Balance verliehen: Natur und Landschaft als überschaubarer Lebensraum, Landschaft in ihrer Dingfülle, wie er selbst meinte, in ihrer immateriellen, transzendentalen Strahlkraft als Beziehungsreichtum, der ihn zum sprachlichen Umsetzen und Formen verleitete. Einmal bekennt er: „Und wie lange habe ich gebraucht zu begreifen, außer dieser meiner Sprache nichts zu besitzen.“
( „Dankrede“, Adenauerpreis 2005)

Halt, lieber Freund, bei dieser Verkürzung muß ich daran erinnern, daß Du außer dem Grundbesitz deiner ganz eigenen, unverwechselbaren Sprache im Laufe Deines Lebens einen Reichtum an persönlichen Beziehungen erworben hast, zunächst in deiner Familie, in deinen Freundschafen, durch Kollegen, kurz um, einen Wirkungskreis mit immensem Radius, dessen Mittelpunkt Deine Persönlichkeit für alle bildete.

Wie oft habe ich es erlebt, wenn wir uns in Familie, mit Freunden oder auf freier Strecke mit Schäfern, Bauern oder Müßiggängern trafen – Deine Präsenz und Zuwendung, die Themen, die Du für jeden dieser Momente vorbereitet hattest oder aus dem Ärmel zaubern konntest, waren meistens wie maßgeschneidert, verblüfften immer wieder durch Dein Kenntnisreichtum, selbst oder gerade auf nichtliterarischen Gebieten, wie spezielle pomologische Fragestellungen, Ackerqualitäten mit Bodenwertzahl 70 um Röttelmisch herum und immer wieder ornithologische Probleme, die mich zwangen, stets meine Bestimmungsbücher in der Nähe zu haben. Nicht zu vergessen sein Interesse für bildende Kunst, die seiner schriftstellerischen Intention nahekam. Es reichte vom sächsischen Bauernmaler Curt Querner über Walter Sachs in Weimar bis hin zum Bildhauer Volkmar Kühn aus Mildenfurth, um nur einige zu nennen.

Wir spürten alle, wie schwer die letzten Jahre und Wochen für Wulf wurden, weil er insbesondere an den für ihn so wichtigen Austausch von Gedanken im vertrauten Kreis sich weniger und weniger beteiligen konnte, die nachlassenden Kräfte schränkten seine Bewegungsfreiheit immer mehr ein. Fontanes Worte, bis dato im Gedicht gelesen, wurden gewissermaßen zur Spiegelung:

„Schwindet hin, was prahlt und prunkt,/ Schwindet hoffen, hassen, lieben,/ Und ist nichts in Sicht geblieben Als der letzte dunkle Punkt.“

Doch halt, an dieser Stelle rufe ich ein Bild in Erinnerung, daß tief in mir seinen festen Platz schon längst eingenommen hat. Wenn der Beifall nach Lesungen und Ehrungen ertönte, erhob sich Wulf zögernd, setzte vorsichtig ein zwei schwere Schritte, eher wie auf einem Ackerstück als auf einem Podium, und man konnte die Idee einer Verbeugung vor dem Publikum entstehen sehen, stattdessen führte er mit den Handflächen zum Publikum, eine mäßigende Auf-und-Ab-Bewegung aus, die in ihrer Unbeholfenheit sehr anrührend war. Aber da war noch dieses verschmitzte Lächeln hinter der Verlegenheit, gut getarnt in den Mundwinkeln.

Die Familie Kirsten bildete aus meiner Sicht keinen idyllischen aber einen durchaus beneidenswerten Lebens- und Arbeitsmittelpunkt für Wulf, voller Verständnis, Schutz, kritischer Begleitung und Kennerschaft in Sachen Kirstenscher Literatur. Sofia Kirsten war in diesem Universum eine multifunktionale Aufgabenfülle zugewachsen. Sie war von Anfang an die erste Leserin neuer Texte, mit einer treffsicheren Urteilsfähigkeit ausgestattet, die genau auf das Schaffen ihres Mannes bezogen war.

Freundschaft war für Wulf Kirsten ein Markenzeichen. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein treuer Freund, der immer die gesamte Person insbesondere in kritischen Lebenssituationen im Auge behielt. Eine besondere Form seiner Freundschaftspflege waren seit den 90-iger Jahren die monatlichen Treffen mit Schriftstellerkollegen, bei denen es um die literarische Arbeit der Beteiligten ging. Dem wichtigen Kreis um Gisela Kraft schlossen wir uns an und nach ihrem Tod 2010 bildete Wulf seine letzte Freundesrunde mit Michael Knoche, Christoph Schmitz-Scholemann und auch ich gehörte dazu. Im November 2022 hatten wir unser letztes planmäßiges Treffen. Wulf kämpfte mit zunehmender Schwäche. Aber immer wieder fesselte er uns mit seinen Einwürfen über Dichter, seinem lexikalischen Gedächtnis in Bezug auf Lebensdaten, Verbindungen, Veröffentlichungen und seinem Interesse an der Arbeit jedes Einzelnen am Tisch. Eines Tages überraschte er uns mit einem neuen Thema, das uns zwei Jahre beschäftigen sollte: Die Elsbeere (Sorbus torminalis), Baum des Jahres 2011, ältestes Exemplar Deutschlands in Belvedere, Baum der Hoffnung in der Klimakatastrophe. Es entstand am Ende nicht nur ein Buch „Die Elsbeere, Wilde Früchte am Baum der Poesie“ mit Texten von uns vier literarischen Baumkundlern in Zusammenarbeit mit Walter Sachs und Andreas Pahl, dem damaligen Gartenchef von Belvedere, nein, wir durchstreiften das Weimarer Land und den Forst hinter Großkochberg mit kundigen Forstleuten auf der Suche nach der schönen Else. Wir fanden sie und auch den wunderbaren Elsbeeren-Schnaps, geschaffen aus den Früchten unseres Baumes. Und hinter der wunderbaren Aufregung stand die einzigartige Begeisterungsfähigkeit des Freundes Wulf Kirsten, die sich nicht ziellos entfaltete, sondern auf etwas Bleibendes und Verbindendes gerichtet war.

Wer sich in den Dunstkreis des Dichters und Lektors Wulf Kirsten mit eigenen Texten vorwagte, war selbst schuld. Ich habe es am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie er mir seinerzeit die Leviten las. Dabei blieb er erstaunlicherweise trotzdem auf Augenhöhe, egal wie tief man in den Sessel gesunken war. Seine gediegene philologische Ausbildung und Erfahrung als Lektor und Dichter gestatteten es ihm, über das sprachkritische Denken und Agieren hinaus, eine Genauigkeit im Urteil zu entwickeln, die treffsicher, schmerzlich und heilsam zu gleich sein konnte. Flink huschte der Stift über die Manuskriptseiten und hinterließ Korrekturzeichen von unübersehbarer Deutlichkeit. Wulf Kirsten besaß außerdem ein besonderes Gespür dafür, literarische Begabung bereits in ersten Schreibversuchen zu erkennen. Seine objektivierte Urteilskraft teilte die Spreu vom Weizen und nun blieb er dran: als Kritiker, Anreger, Berater. Er besaß klare Vorstellungen, wie ein Gedicht poetisch aufzuladen war und konnte sie konkret auf das jeweilige Beispiel anwenden. Heute gibt es zahlreiche anerkannte Schriftsteller, die durch die Kirstensche Dichterschule erfolgreich gegangen sind.

Hatte Wulf Kirsten bereits die erzwungene Beschränkung der Bewegungsfreiheit in der DDR auf seine Weise überwunden, geistig durch zum Beispiel die virtuose Nutzung von Bibliotheken, insbesondere die Herzogin-Amalia-Bibliothek, als Briefeschreiber und -empfänger über alle Grenzen hinweg und ganz früh schon durch den scheinbaren Rückzug seiner Dichtung in den Landstrich seiner Herkunft um Klipphausen herum, so überwand endlich sein Reclam-Band „die erde bei Meißen“ 1986 die innerdeutsche Grenze und erschien 1987 bei Suhrkamp. Da hatte Wulf dem sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat ein Schnippchen geschlagen. Und Wulf ging auf Reisen nicht mehr nur gen Osten, nun auch gen West.

Die beiden Wohnungen der Kirstens in der Paul-Schneider-Straße bildeten für die Familie, Schriftstellerkollegen und Freunde von überall her einen besonderen Treffpunkt. Es war eine Ehre, am gedeckten Tisch Platz nehmen zu dürfen. Wulf bildete den Mittelpunkt, gut vorbereitet, mit einem Text bei der Hand, mit Entdeckungen aus Bibliotheken und Antiquariaten, Besprechungen von Veröffentlichungen, Briefen und eigenen Gedichten. Und jeder Gast fühlte sich aufgefordert, eigenes beizusteuern. Ja, es ging um Literatur, um Dichter, Schicksale, Scheitern und Erfolg, Kunst und um Politik, aber auch um die einfachen Dinge des Lebens.

Wulf Kirsten war von 1987 an, dem Jahr der Verleihung des Peter-Huchel-Preises an ihn, als freischaffender Autor tätig. Keine leichte Entscheidung. Und, ohne es zu ahnen, waren da die Weichen für 1989 schon gestellt. Wulf betonte immer, daß er kein politischer Dichter sei, aber ein wacher politischer Mensch war er durchaus. Besonders für unsere Wanderungen galt in dieser Zeit erstrecht: „…ich, meine freunde, wir gehen, wir reden immer ein menschliches wort.“

Dann ging es Schlag auf Schlag, Fälschung der Kommunalwahlen 1989, Gründung des Neuen Forums, Suchet der Stadt Bestes in der Herderkirche, Besetzung des Stasi-Gebäudes in der Cranachstraße, Erstürmung einer geheimen Bunkeranlage in Buchfahrt – Wulf stand in der ersten Reihe. Von März bis Oktober 1990 vertrat er die Bürgerbewegung Neues Forum als Fraktionsvorsitzender im Stadtparlament. Das sagt sich leicht. Wulf stürzte sich Hals über Kopf in die Lokalpolitik, und bekam die Mühen der Demokratie hautnah zu spüren. Die Enttäuschung folgte auf den Fuß: „Wie dilettantisch wir als Laienpolitiker zu Werke gingen in viel zu schwach besetzten Gruppen. Aus dem Nichts heraus. Ohne jedwede Vorbereitung. Wir meinten, zunächst müsse das unterirdische Netz der Macht aufgespürt und unter Kontrolle gebracht werden, so wie es den aufständischen Bauern im Mittelalter darum gegangen war, die Zwingburgen zu schleifen als die abschreckendsten Symbole ihrer Peiniger.“ Und: „Heute, aus der Rückschau, vom Boden einer vollklimatisierten, vollbürokratisierten, repräsentativen Demokratie ist leicht lächeln und spotten über das „Bunkerfieber“, das uns im Winter 1989/90 befallen hatte.“
(„Gegenbilder des Zeitgeists“, Wartburg Verlag 2009)

Wulf Kirsten hatte im historisch einmaligen Moment der friedlichen Revolution nicht gezögert seine Persönlichkeit und, das ist nicht überrieben, seine Existenz als Schriftsteller bei der Schaffung neuer demokratisch verfasster Grundlagen in die Waagschale zu werfen.

Resümee: „Als ich vor der Alternative stand, Politiker zu werden oder Schriftsteller zu bleiben, entschied ich mich rasch für die Rückkehr ins Reich der Literatur.“
(„Gegenbilder des Zeitgeists“, Wartburg Verlag 2009)

Merkwürdig, so umfassend die gesellschaftlichen Umbrüche auch stattfanden und ein gewesenes Land auf den Kopf und sogleich mit den Füßen auf einen neuen Boden setzten, geblieben waren die Ödländerein am Rand der Geschichte hier und überall, vor 1989 und danach. Wulf brach wieder auf und fand es fast unverändert:

„einfach so über die erde gehen, mir nichts, dir nichts, wo nichts wächst, was der landwirtschaft nutzen abwirft, armseliges besenginsterland, das mit seinen schwarzen schoten raschelt. Grandig klirrt´s und knistert´s auf verlorenem posten….aus dem fruchtbaren ackerland, monoton gebreitet bis in alle morgenweiten, erhebt sich das wüste riff, grün überbuscht wie ein raupenhelm, eine erdwelle belebt die landschaft am stillen nebenlauf der Gramme.“
( aus „ödland“, Die Erde bei Meißen, Ammann 2004)

Es ist, als wäre es gestern gewesen in unserem Ödland am Hohen Berg zwischen Ottstedt am Berge und Niederzimmern, als wir ein Gespräch über seine Landschaften im Gedicht führten. Vielleicht erinnerte ihn die bescheidene Erdwelle an die sanften Hügel der Lommatzscher Pflege, links der Elbe…

Aber Wulfs Blick reichte weiter. Hinter dem Hohen Berg streckt sich der Ettersberg von West nach Ost. „Der Berg über der Stadt“, Weimars Hausberg, über den Wulf gemeinsam mit dem Fotograf Wenzel-Orff ein Buch verfasste, nachdem er das Gelände in allen Richtungen zu Fuß erschlossen hatte. Und natürlich forschte er auf seine Weise akribisch in den Bibliotheken und Archiven nach Quellen, literarischen Zeugnissen und Dokumenten zur Geschichte des Berges, insbesondere zum Konzentrationslager, unterstützt von seinem Sohn Holm. Er reihte sich ein in die „… endlose kette/ von namen, wehrlos geliefert, ein grauer tag, der mich umtreibt, kein mensch sonst, der die augenwege abgeht am laublosen aufwuchs, überrandet ansatzpunkte, halsbrecherisch im muschelkalk, die menge der tyrannen wie wehende spreu…“
(„rauher ort“, Standort, Ammann 2004)

Mit dem Lesebuch „Stimmen aus Buchenwald“ und dem Gedichtband „Der gefesselte Wald“, Gedichte aus Buchenwald, französisch deutsch, den er gemeinsam mit Annette Seemann herausgab, gelang es ihm auf unvergleichliche Weise den Häftlingen von Buchenwald eine Stimme zu geben.

Für Wulf, Sofia Kirsten und mich gibt es, einen ganz besonderen Kraftort, eine Landschaft im Süden Europas, in der Provence. Wir benutzen bis heute eine Reihe von Zauberworten, die Wulf erst recht kannte: Seguret, Rue de Porternes, Sablet, Vaison la Romaine, Vontaine de Vaucluse, Les Baux und nicht zu vergessen Suze-la-Rousse, wo wir uns mit Stephan Micheau, seinem Freund und Übersetzer, und Altmeister Michel Deguy im Schatten der Burg trafen.

Die Reisen hatte Wulf generalstabsmäßig vorbereitet. Keine Landkarte war vor ihm sicher. Unvergesslich der Moment, in dem wir unser Haus in der Rue de Porternes erreicht und die steile Treppe ins große Kaminzimmer bezwungen hatten. Wulf ließ es sich nicht nehmen kraftvoll die schweren Fensterläden aufzustoßen: Licht, Luft, Sonne, Schwalbenschwirren, die Tonspuren der Mauersegler und jener Duft von Rosmarin und Thymian über der Rhone-Ebene, links Avignon, rechts Orange in Sichtweite. Wulf fand hier zu seiner grundlegenden Heiterkeit, die in den Mühen des Alltags eines Dichters am heimischen Schreibtisch sich nur selten Bahn brach. Am Abend saßen wir auf der Terrasse und über uns breitete sich der provenzalische Sternenhimmel. Es waren Momente einer besonderen Nähe und Intensität. Unsere Provence von Weinbau und Landwirtschaft geprägt, mit ihren ungeschönten Dörfern und Städtchen, bildeten für ihn einen Lebensraum in situ, der Wulf vertraut vorkam und seine Schöpferkraft beflügelte.

In Wulfs Gedicht „Joseph Roth in der Provence“ („Der Bleibaum“, Ammann 2004) lese ich: „drei tage bin ich unterwegs/ an den fruchtbaren ufern der Rhone./ auf den hügeln wächst der wein,/ von dem ich trinken werde./ einer der berge reißt sich/ das grüne kleid vom kreidigen leib./…das rauschen des flusses/ verfängt sich im ohr./ am horizont steht auf Les Baux,/ das weiße schloss der poesie,/…“

Und dann meine ich, daß in diesem Gedicht eher Wulf selbst unterwegs ist.

Unsere Freundschaft begann im Herbst 1977. Ein oder zwei Jahre später lud Wulf Eberhard Haufe, Friedbert Jost und mich erstmals auf eine besondere Exkursion ein: Zu Fuß von Weimar nach Orlamünde. Jahr für Jahr wanderten wir los. Immer wieder bewältigten wir sprichwörtlich bei Wind und sogar Unwetter die 30 bis 35 km, je nachdem wie er die Rute festgelegt oder wir uns verlaufen hatten. Wir gingen auf Nebenwegen der Geschichte, querten den Rheinstädter Grund und nutzten die Hohe Straße – immer das Ziel vor den Augen: Orlamünde.

Aus heutiger Sicht ein unspektakuläres Unterfangen, aber für uns alle, besonders für Wulf waren diese Aufbrüche ein Erlebnis, das bis zuletzt nachwirkte und in ihm einen Grundton im Schweben hielt.

Er schrieb über unsere Ankunft:

„saaleüberwärts ins Orlatal geblickt,/ ein biergarten schäumt/ unter endlos zerdehnter traueresche./ Im abendschein/ durchs alte stadttor ziehn,/ wenn aus den laubkronen unten/ der pirol dir die kindheit zurückruft,/ als wär die dreimal gewendete zeit/ neunmal stehengeblieben/ in der stadt auf dem riff/ zwischen Pfisters gehöft/ und kemenate, im rost verlummert /und schamstumm erstickt.“
(„feldwegs nach orlamünde“, Stimmenschotter, Ammann 2004)

Und so sind wir alle, die sich heute zu Ehren Wulf Kirstens versammelt haben, jeder auf seine Weise Ankommende, heute, um einerseits Abschied von ihm zu nehmen und andererseits, um wieder aufzubrechen, jeder auf seinem Lebensweg.

Im Frühjahr, wenn es mir möglich ist, mach ich mich noch einmal auf den Weg nach Orlamünde, und Du wirst dabei sein, wenn wir über die Plinzmühle gehen, über Gumperda, Beckers Kirchhof oder Rheinstädt. Was meinst Du, Freund Wulf? Es gibt feldwegs nach Orlamünde noch viel zu besprechen, misch dich getrost mit deinen menschlichen Worten in meine Selbstgespräche ein, lieber Wulf!

Spazierengehen

Alles fußläufig zu erreichen:
Sparkasse, Supermarkt, Arzt.
Auch die Gräber der Persönlichkeiten.
Was für Aussichten hinter jeder
Kurve und über die Bordsteinkanten
hinweg.
Manchmal überholen sich die Schatten
des Gehers, weltenthoben,
Im Kreislauf der Selbstgespräche.

Anruf

Die mit Stöcken und Armbinden
bewaffnet auf dem Weg zur Stadt,
zur vollen Stunde und einmal um das
Zifferblatt herum, wieder und wieder,
ihre Träume von Glockenschlägen
in die Flucht schlagen lassen,
bis sie niemand vermisst hinter den
Gesten der Nächstenliebe.
Auch wir gehen ihnen in die Falle
vor Ablauf der Zeit.

Trostreich

Der Tag gibt sich zu erkennen,
trägt grünes Blätterkleid und
flüstert mit den Nonnen,
ruft selbst seinen Namen auf.
Wo er beginnt, verfaulen die Schläfer
in ihren Betten, und er endet
in der Einfalt eines Wachtraums.
Dazwischen bleibt genügend Zeit
für die Pflege von Kontakten und
die Bewahrung des Himmels.

Vorsicht

Hammerschläge,
kreischendes Metall,
während aus allen Wolken
Vogelschwärme und ganze
Gesellschaften fallen.
Ihre Empörung lehrt, die
Netze zu flicken und über der Heimat
auszuspannen. Was dann durch die
Maschen fällt, sind Begriffe, befreit
von den täglichen Dingen.

Bedenken

Die Kirchentüren offen, schwarze Löcher
mit dem Lockduft der Verheißung, als würde
einer der Nächsten doch noch in die Falle gehen.
Stein auf Stein für eine abgeschlossene Ewigkeit,
in die sich die alten Geschichten gerettet haben,
nebenbei die Geduld der Zeichen im rechten
Winkel und die Stationen an die Wände genagelt,
schmerzende Handflächen und der Stich in die Brust.
Wenn du gehst, nimm das Leuchten aus
der gefangenen Stille mit und hoffe trotzdem
auf die Behütung all deiner Wege.

Ansprache

Niemand auf den freien Platz wünschen,
links oder rechts von der Mitte, keine
stille Post der Mißverständnisse,
lieber die Wälder in Watte packen
und die Meere schließen, die Gebirge
abbauen und andere Sachen.
Rosen können fliegen, Granaten
und Amphibien, sogar Arbeitnehmer
an Werktagen durch den offenen
Luftraum.
Ein Märchen ist das nicht,
sondern Tatsache, liebe Freunde.

Flucht

Ihre Namen bringen sie mit,
ihre Koffer und Trauer, und
sind da, wie der Nachbar,
und suchen Worte mit den
Schlüsseln ohne Türen in den
Fäusten, den Sand der
Wüste in den Kleidern, die
Last der geborstenen Mauerbögen
auf den Schultern und die Namen
ihrer Katzen im Herz, und finden
ihre Bäume nicht, ihre Beete
und ihre Tage zwischen den Tagen,
aber sie sind da und fühlen die Welt
wie einen verheerenden Irrtum.

Anfrage

Wenn mir der Regen durchs Auge fällt,
bin ich nur noch Wassermann,
erfinderisch und freiheitsliebend.
Wer aber könnte mich retten, wenn mir
im Innern das Wasser bis zum Hals steht,
wer siegelt die Schleusen und schließt
die Wehre hinterm Brustbein, wer nimmt
die Wäsche von der Leine und ehrt
die altmodischen Regenschwüre ohne mich,
wer wirft die Rettungsringe hinaus
ins Leben und legt die angeschwemmten
Kadaver auf den Küchentisch,
wer zieht mir die davonschwimmenden
Felle über die Ohren?

Fototermin

Die Frau sitzt auf der Stuhlkante, ihre Tochter mit Pferdeschwanz und weißer Schleife auf dem Schoß. Der Sohn, ins Bild gebeugt, steht hinter ihnen. Abstehende Ohren, strenger Scheitel. Die Krawatte des toten Vaters um den Hals. Sie durchschaut das Objektiv, sieht am Ende der Allee einen Mann in Uniform, der ihr zuwinkt. Bitte lächeln, sagt der Photograph. Die Frau hört das Klicken des Auslösers. Sie sieht ihren Mann fallen. Die Hand des Sohnes auf ihrer Schulter. Liebe, liebe Mutter. Das Mädchen lächelt unter einer weißen Schleife, als könnte es in die Zukunft blicken.

Asservatenkammer

Die Dunkelheit in den Augenhöhlen ist
tausend Jahre alt, wie die Krümme links
vom Jochbein. Die Last der Würde
einfach so auf Erden zurückgelassen,
wie Kelch und Patene ohne Handlung
von Schmutz bedeckt. Schau hin:
Als würden seine Knochenfinger
über Seide und Samt nach den
verlorenen Zusammenhang tasten.
Schon fegt der Pinsel staubselig
über die Trümmer der Halswirbel.
Beachte den Ring! Die Initialen
auf den Resten des Holzes verraten nichts!
Geburtstag und Todeszeit unbekannt.
Dazwischen ein abhandengekommenes
Leben voll verstohlener
Sehnsucht nach Sünde und Erlösung.
Bleibt zwischen den Kiefern
das endgültige Gutlachen im Ruhesanft.
Von einer Kinderschaukel sei ihm
der Sprung ins Himmelreich beinahe
gelungen, berichtet die Legende.

Wenn wir die Tür schließen, kehrt
die Dunkelheit zurück in die Lichtquellen.

Kochkunst

Ich sah zwischen den Baumstämmen seinen abstehenden Armstumpf, an dem ein Marmeladeneimer baumelte, randvoll mit Knollenblätterpilzen, Gifthäublingen und Spitzgebuckelten Rauköpfen.

Er wollte mich lehren, zu kochen eine Speise aus Gras, Kräutern und Gift. Nimm nichts von Fremden! Da schlug er mich mit seinem Atem nieder.

Ich fand Rettung, wie so oft, im Schatten der Buchen. Gestorben ist er Jahre später an Einsamkeit, verborgen hinter einem Vorhang aus strömenden Regen. Seine Rezepte nahm er mit ins Grab.

Versuch einer Erklärung

Solange ich glaube, daß Du mein Wesen liebst, brauche ich nur zu warten. Um meine Ohren und Augen mache ich mir keine Sorgen. Die Tage und Nächte scheren sich nicht um unsere Zustände. Immer häufiger scheitere ich beim Überspringe des Stöckchens und verlaufe mich im Trüben umgeben von Stille.

Solange ich etwas glaube, hört es niemand. Zwischen Traum und Geschichte schwinden die Abstände. Da kann ich zwei Stufen auf einmal nehmen. Der letzte Sturz ist absehbar. Es geht um Bewegung, nicht um Hoffnung oder Unsterblichkeit. Dabei denke ich mit Sorgfalt an dich, obwohl die Welt vor dem allerletzten Schritt steht. Nur die Fische sind ahnungslos.

Irgendetwas in unserer Nähe, treibt mich zur Flucht. Denn schön sind wir nur auf Distanz. Deine Umarmung auf der Türschwelle ergreift nur die Form des ersten Eindrucks. Verrat könnte im Spiel sein, diese tückische Kugel im Kreislauf.

Die Art und Weise wie du den Tee einschenkst, befiehlt mir zu hören und zu sehen. Jedes Wort wie ein heißer Bissen auf der Zunge dreimal gedreht. Und die Hoffnung auf ein wenig Zartgefühl umgeben von Sang und Klang. Schweigen macht nicht unsichtbar, gehört aber zum Hokuspokus meiner Auftritte. Ich sehe dich in der ersten Reihe, kurz bevor der Vorhang fällt.

In Memoriam für Wulf Kirsten,
der am 14.12.2022 verstorben ist.

Über den Alten Gleisberg hinweg

»…ich, meine freunde, wir gehen, wir reden

immer ein menschliches wort.“

(Wulf Kirsten, aus „die erde bei Meißen“,
„woherwohin“)«

Hinter uns Taupadel, vor uns der Alte Gleisberg.
Dort sahen wir ein Gewitter und merkten, wo die Blitze Wunden am Hang geschlagen hatten. Purpurn quollen Blutstropfen unterm Wiesendunst hervor. Die Blüten der Pfingstrosen. Mit dem Wurzelstock in der Hand begannen wir die Flur neu zu vermessen und verschoben die Grenzsteine unserer Erinnerungen. Auf der Höhe sahen wir die Brandnarben in den Wiesen. Die laute Welt murrte fern. Nur eine Goldammer sang das Lied von der Einsamkeit. Da capo, da capo, al fine. Abstieg durch die Buchenhallen des Nordhangs. Ratlos hielten wir Rast am verlassenen Dachsbau. Und sahen überwinterte Blätter wie unsere Träume zu Tal wirbeln. Wir trafen uns mitten in jener Zeile wieder: Auch das Vergangene ändert sich täglich. Also ließen wir die Flasche kreisen und tischten auf unseren toten Wandergenossen. Was für ein Fest. Hinter Löberschütz wären wir beinahe am Rand einer stillgelegten Strecke auf das Abstellgleis geraten. Ein Geisterzug fuhr lautlos vorüber. Wir wendeten uns nicht. Rüttelnd stand der Bussard im letzten Blau. Unser Tagwerk beschlossen wir Wort für Wort, zwei Streckenläufer am Ende eines Tages, der keine Lüge gekannt hatte. Vor uns Taupadel, hinter uns der Alte Gleisberg.